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Anschließend als Anregung eine Geschichte von unserem Webmaster Gerhard Weil "Eine Nacht in der Stadtbibliothek":
Eine Nacht in der Stadtbibliothek
Frederick war das, was man früher eine „Leseratte“ nannte. An Smartphones und Tablets hatte er nur ein sehr begrenztes Interesse, weil ihn diese Gerätschaften von der Beschäftigung mit Büchern eher abhielten.
Das Lesen hatte sich der Erstklässler in Windeseile selbst beigebracht, aus Ärger darüber, dass seine alleinerziehende Mutter, Ellen Bransky, das Vorlesen von „Einschlafgeschichten“ gelegentlich ohne Grund ausfallen ließ. So durfte er sich in der Schule bereits spannenderer Lektüre widmen – die Lehrerin Frau Maiwald erlaubte es, wenn er dafür bei Bedarf Mitschüler beim Lesenlernen unterstützte. In seiner freien Zeit verschlang er ebenfalls ein Buch nach dem anderen. Am Ende der ersten Klasse war er ein guter Kunde seiner Stadtbücherei mit eigenem Leseausweis geworden, in der zweiten Klasse kannten ihn sämtliche Bibliothekarinnen mit Namen, auch die Leiterin, Frau Dr. Hinzmann-Winter, und jetzt, in der dritten Klasse, nannte man ihn intern den „lesewütigen Frederick“, und das war durchaus anerkennend gemeint.
Frederick hatte auch eine Mitschülerin, Insa Müller, für die er schwärmte, weil sie in der Musikschule schon Gitarre spielen lernte. Er überredete sie zum Besuch der Stadtbibliothek, und so radelten die beiden häufig zusammen dorthin. Doch während Frederick praktisch das gesamte Themenspektrum der Kinder- und Jugendabteilung auf der Suche nach Lesefutter abgraste, mussten es bei Insa in erster Linie Pferdebücher sein, ein Mädchenthema, zu dem die Bücherei allerdings recht gut ausgestattet war.
Dann kam die Corona-Pandemie, und die Schulen wurden geschlossen. Zwar bekam Frederick von seiner Mutter einen Laptop geschenkt und kam mit dem Onlineunterricht und den Hausaufgaben ganz gut zurecht, aber so richtig Spaß machte ihm das Ganze nicht. Kritisch wurde es allerdings erst, als die reduzierten Öffnungszeiten der Stadtbibliothek ohne Vorankündigung komplett gestrichen wurden. Vorsichtshalber hatte Frederick noch einen ganzen Stapel Bücher ausgeliehen und mit dem Fahrrad nach Hause transportiert. Bei seinem Lesetempo war der Vorrat jedoch bereits nach zwei Wochen ausgelesen und wartete in seinem Regal – in dem speziell für Leihbücher vorgesehenen Fach – auf Rückgabe. Wie er es in den Bibliotheksregalen gesehen hatte, drehte Frederick einige Bücher, die ihm besonders gefallen hatten, mit der Titelseite quer vor die anderen Bände.
In der folgenden Nacht wachte er plötzlich auf. Vom Bücherregal schien ein Flackern zu kommen. Beherzt schlug er die Bettdecke zurück. Zwei der von ihm mit der Frontseite zum Betrachter gedrehten Bücher leuchteten wie Hologramme. Bei den Covern handelte es sich um realistische Darstellungen, die irgendwie zum Leben erwacht waren, und der Buchinhalt wurde dreidimensional in den Raum projiziert. Das eine Buch war „Von Iglu-Town nach Pingu-City“ von Thomas Mac Pfeifer, das andere „Wie Oskar ins Museum kam“ von Gaby Grosser.
Frederick war in keiner Weise erschrocken, denn die Figuren sahen haargenau so aus, wie er sie sich beim Lesen vorgestellt hatte. Er holte sich seine Bettdecke, machte es sich auf einem Stuhl bequem und sah fasziniert zu. Erst nach längerer Zeit ging er müde wieder ins Bett, und die Hologramme erloschen.
Das „Kinoprogramm“ wiederholte sich nun fast jeden Abend, außer, Frederick kam völlig übermüdet nach Hause, was während des Lockdowns aber wirklich selten der Fall war. Seiner Mutter erzählte er lieber nichts davon, er fürchtete, vielleicht zum Arzt geschickt zu werden.
Im März ging die Grundschule wieder los, auch für Fredericks dritte Klasse, wenn auch nur mit der halben Gruppe – zum Glück konnte er die zwei-drei Schulstunden mit Insa zusammen verbringen. Gleich am ersten Tag holte Frederick heimlich das Buch von Oskar, dem Saurier im Naturkundemuseum, aus der Mappe und steckte es Insa zu. „Lies mal die ersten Seiten und stell es dann mit der Vorderseite quer in dein Bücherregal. Spätestens ab 11 Uhr abends kannst du dir das Buch dann nochmals in 3-D angucken“, flüsterte Frederick seiner Freundin zu. Obwohl es sich nicht um ein Pferdebuch handelte, versprach Insa, seinem Rat in der kommenden Nacht zu folgen. Ihr war ziemlich langweilig, weil die Musikschule mit ihrem geliebten Gitarrenunterricht noch geschlossen blieb.
Nach zwei Tagen war wieder Gruppenunterricht, und Frederick wartete gespannt auf Insas Bericht. „Tut mir leid, ich habe das ganze Buch gelesen, aber bei mir zu Hause hat nachts keine Titelseite geleuchtet, kein bisschen!“, klagte Insa. Das war natürlich Pech. Frederick wollte es mit anderen Büchern versuchen, denn heute war wieder Öffnungstag in der Stadtbibliothek. Da kam ihm eine irre Idee: Wenn er sich über Nacht in der Kinder- und Jugendabteilung einschließen ließ, könnte er sich doch aus den vielen schon von ihm gelesenen Bänden die stärksten „Leuchter“ heraussuchen. Da er schon öfter bei Insa zu Hause übernachtet hatte und sie bei ihm, würde er seine Mutter um Zustimmung zum Auswärtsschlafen bitten, das war kein Problem, wenn er Insa in sein Vorhaben einweihte.
Mit einem Rucksack und der obligatorischen Gesichtsmaske erschien Frederick am Nachmittag in der Stadtbibliothek und wurde von den Mitarbeiterinnen freudig begrüßt. Kurz vor Schließung verkroch er sich in die hinterste Ecke der Nische für den Münzkopierer. Eine halbe Stunde nach Ende des Publikumsverkehrs wurde das Licht auf Sparbeleuchtung heruntergedimmt, und Frederick kam aus seinem Versteck. Die Computerecke der Bibliothek war wegen der Pandemie weiter abgesperrt. Von den Kinderbüchern konnte Frederick nur drei entdecken, die mit dem Cover zum Betrachter standen und jetzt als Hologramm zu leuchten anfingen, alles ihm wohlbekannte Bände. Er holte sich einen Hocker und ließ sich jedes Buch noch einmal vorführen. Leider fiel kein Band durch besonders intensive Leuchtkraft auf. Da er noch jede Menge Zeit hatte, probierte er es mit anderen von ihm bereits gelesenen Exemplaren – es klappte tadellos, doch auch von dieser Auswahl strahlte keines stärker als der Rest.
Nach den vielen „Filmen“ wurde Frederick allmählich echt müde und suchte sich eine halbwegs kuschelige Lesesitzgruppe, die ebenfalls noch mit Flatterband abgesperrt war.
Nach etwa drei Stunden Schlaf wurde es Frederick kalt und ungemütlich. Er wollte nach Hause, seine Mutter würde gleich zur Frühschicht gehen, und er konnte in seinem Bett ausschlafen, weil heute die andere Klassenhälfte in der Schule erwartet wurde.
Vorsichtig machte sich Frederick an den Nebenausgängen und dem Haupteingang zu schaffen, aber alles war fest verschlossen, und vom Notausgang ließ er lieber die Finger, schließlich wollte er die Stadtbibliothek auch künftig noch besuchen.
Frederick war gerade ratlos und müde zu seiner Sitzecke zurückgekehrt, da standen plötzlich zwei Polizisten vor ihm und fragten, was er denn hier in der Stadtbibliothek zu dieser Zeit so mache.
Wieso hatten sie etwas bemerkt und warum hatte er kein Blaulicht gesehen? Was Frederick nicht wusste: Vor einiger Zeit war hier eingebrochen und einige PCs entwendet worden. Daraufhin hatte man sämtliche Eingänge mit einem stillen Alarm ausgerüstet, der direkt die nächste Polizeiwache alarmierte.
Leicht amüsiert folgten die Polizisten Fredericks Schilderung von den nachts „strahlenden“ ihm bekannten Büchern und brachten ihn dann unter mahnenden Worten nach Hause, gerade noch rechtzeitig, bevor seine Mutter zur Frühschicht aufbrach.
Ellen Bransky bestätigte den Ordnungshütern, ihr Sohn sei schon lange ein ungewöhnlich fantasievolles Kerlchen mit einer ausgeprägten Liebe zu Büchern und zur Bibliothek. Nach der Arbeit werde sie sich intensiv mit ihm über den Vorfall unterhalten. Als die Polizisten und seine Mutter fort waren, ging Frederick schnurstracks ins Bett.
Gegen Mittag wurde er vom Telefonklingeln geweckt. Es war die Bibliotheksleiterin, Frau Dr. Hinzmann-Winter, die Frederick in ihr Büro bat. Jetzt verhüllte die Maske Fredericks Schamgefühl, und er wartete auf das „Donnerwetter“. Als Erstes wollte die Leiterin wissen, wo er sich denn versteckt gehalten hatte und was er nachts in der Bibliothek so getrieben habe. In allen Einzelheiten ließ sie sich die „strahlenden gelesenen Bücher“ beschreiben, und als sie erfuhr, dass nichts beschädigt oder entwendet worden war, sah sie keinen Grund für ein Hausverbot. Frederick atmete hörbar durch die Maske auf.
„Da du ja so gerne hier bist und dich auch so gut auskennst“, fügte Frau Dr. Hinzmann-Winter hinzu, „mache ich dir aber ein anderes Angebot: Wenn wir mal wieder Führungen mit Schulgruppen veranstalten dürfen, würde ich dich gerne als Unterstützung der Kollegin einsetzen, die das Programm organisiert. Stimmst du und deine Mutter zu, machen wir mit der Kollegin, Frau Umseld-Clever, noch Vorbereitungstreffen. Das ist dann unser ›Youth Leader‹-Programm. Bist du einverstanden?“
Frederick war hocherfreut über die überraschende Wendung, hatte aber noch eine Bedingung: „Ja klar, aber kann Insa Müller auch mitmachen?“
Besuch in der Stadtbibliothek Lichtenrade in der Alten Mälzerei Fotos: Weil
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